Der 16. Mai 1943 war ein Sonntag und der Zweite Weltkrieg im nordhessischen Edertal bisher friedlich verlaufen. Wichtige Ziele für die alliierten Bomber, außer der für damalige Verhältnisse schwer zu treffenden Talsperre, befanden sich hier nicht.
Was die Bewohner des Edertals aber nicht wussten: In England hegte man seit längerer Zeit den Plan, einen Schlag gegen die deutsche Strom- und Wasserversorgung des Ruhrgebietes zu führen und somit die deutsche Rüstungsindustrie entscheidend zu schwächen. Die Talsperren der Eder bei Kassel, sowie der Möhne und Sorpe (Nordrhein-Westfalen) wurden als Hauptziele bestimmt, zu deren Zerstörung besondere "Roll-Bomben" des englischen Flugzeugkonstrukteurs Barnes Wallis zum Einsatz kommen sollten.
Dabei war die Edertalsperre nur ein Sekundärziel, da sie lediglich als Wasserreservoir für die Weser und den Mittellandkanal fungierte und für das Ruhrgebiet ohne Bedeutung. Mitte Mai rechnete man mit dem Höchststand in den Talsperren. Man wollte eine möglichst große Zerstörung durch das ausströmende Wasser erzielen
Spezielle "Roll-Bomben"
Der Anflugweg war komplex. Die "Roll-Bomben" mussten aus der gefährlich niedrigen Höhe von 18 Metern abgeworfen werden, damit sie wie Kieselsteine die Torpedo-Abwehrnetze überspringen konnten. Dann sollten die Behälter mit dem explosivem Material zunächst gegen die Staumauer prallen, vor der Talsperre sinken und in etwa zehn Metern Tiefe die Detonation auslösen.
Für dieses Unternehmen wurde aus den besten Bomberbesatzungen der Royal Air Force die No. 617 Squadron ("Staffel") aufgestellt. Knapp zwei Monate lang übten die Flieger die Anflüge, bevor in den frühen Abendstunden des 16. Mai 19 viermotorige "Lancaster"-Bomber zur "Operation Chastise" ("Unternehmen Züchtigung") starteten.
Als erstes Angriffsziel der Operation wurde die Möhnetalsperre bei Soest um kurz nach Mitternacht angegriffen. Zwei Bombentreffer waren nötig, um die Mauer einzureißen, dann ergossen sich um 0.49 Uhr die gestauten Wassermassen in die Tiefe. Eine Flutwelle von fast zwölf Metern Höhe fegte durch das Tal und sorgte für große Zerstörungen sowie weit über tausend Todesopfer. Ihre Ausläufer erreichten noch das etwa 100 Kilometer entfernte Essen-Steele.
Im Edertal wurden gegen 1 Uhr einige Bewohner durch das Motorengeräusch von fünf tief fliegenden englischen Bombern geweckt, die in der Nähe kreisten. Dichter Nebel und die umliegenden Hügel erschwerten die Anflugbedingungen immens, was durch die erst eine Woche zuvor vom Edersee abgezogene Flugabwehr wiederum etwas ausgeglichen wurde.
Im Sturzflug vorbei
Mehrfach flogen die Bomber die Sperre erfolglos an, im Sturzflug am Schloss Waldeck vorbei. Erst im siebten Anlauf gelang der Abwurf einer Bombe auf das Ziel und um 1.39 Uhr gab es den ersten Treffer. Eine zweite Bombe war um 1.52 Uhr nötig, dann war auch die Edertalsperre eingerissen.
Etwa 160 Millionen Kubikmeter Wasser brachen los und schufen eine Flutwelle zwischen sechs und acht Metern Höhe.
Die Gemeinde Hemfurth, heute ein Stadtteil von Hemfurth-Edersee, wurde teilweise überschwemmt, die Kraftwerke "Hemfurth I" und "II" erlitten erhebliche Beschädigungen. Das Dorf Affoldern war im Edertal mit am meisten betroffen. Die Flutwelle riss Straßen, Brücken und Eisenbahnschienen mit und schnitt die Gemeinde von der Außenwelt ab. Bis nach Kassel, 35 Kilometer von der Sperre entfernt, war der Bruch spürbar, als die Fulda in den Morgenstunden kurzzeitig um einige Meter anstieg und unter anderem Teile der Altstadt überflutete.
Es war dem gut funktionierenden Alarmsystem zu verdanken, dass neben den landwirtschaftlichen Schäden lediglich knapp 70 Menschen ums Leben kamen. 50 Hektar Ackerland waren durch Abtragung des Mutterbodens zerstört und weitere 40 Hektar durch Geröllablagerungen unbrauchbar, dazu kamen noch die Verluste an Vieh.
Die Bilanz der Aktion war auch auf englischer Seite erschreckend. Zwar hatte man zwei Talsperren erfolgreich angegriffen und zwei weitere, die der Ennepe (Nordrhein-Westfalen) und der Sorpe, zumindest getroffen. Im Gegenzug waren aber auch acht der 19 eingesetzten Bomber verloren gegangen, was einer Verlustrate von 42 Prozent entsprach. 53 von 133 Besatzungsmitgliedern waren tot, drei weitere in Gefangenschaft geraten.
Wiederaufbau
Zudem war der langfristige Erfolg der Angriffe auf die Talsperren nicht so entscheidend, wie man es sich erhofft hatte. Wohl sank die Trinkwasserproduktion der Region um zeitweilig knapp 75 Prozent und für zwei Wochen kam es aufgrund zerstörter und beschädigter Kraftwerke zu Strom-Engpässen im betroffenen Gebiet.
Einige Ausfälle in der Rüstungsproduktion waren die Folge, doch bis Ende Juni konnte die Versorgung wieder auf dem ursprünglichen Niveau erfolgen. Der Wiederaufbau der Talsperren wurde sofort begonnen und in Rekordzeit geschafft - auch durch den rücksichtslosen Einsatz von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Allerdings kam es bei der Edertalsperre zu bautechnischen Komplikationen. Zwar wurde sie wie die Möhnetalsperre Ende September 1943 fertig, die Wiederherstellungsarbeiten konnten jedoch erst im Juli 1944 wirklich abgeschlossen werden. Bis 1994 waren noch vier Sanierungsmaßnahmen nötig.
Heute erinnert noch das "Sperrmauermuseum Edersee" auf dem Gelände des ehemaligen Kraftwerks "Hemfurth II" an die Ereignisse der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943. Hier ist auch eine Nachbildung jener "Roll-Bomben" ausgestellt, die damals zum Einsatz kamen. Das Museum ist täglich von 11 bis 17 Uhr geöffnet.
In England produzierte man 1955 den Film "The Dam Busters" (deutscher Titel: "Mai 43 - Die Zerstörung der Talsperren"), der den Angriff auf die Talsperren der Möhne und Eder aus Sicht der Bomberbesatzungen darstellt. Eine Neuauflage unter "Herr der Ringe"-Regisseur Peter Jackson ist zurzeit in Vorbereitung.