Als Manfred Kopp 1943 an die damalige Städtische Oberrealschule, das spätere Gymnasium Oberursel (GO), kommt, ist sein Vater im Krieg - in Russland. Und so erfährt er nur aus Briefen, wie es seinem Jungen geht. Manfred schreibt zum Beispiel, dass Buben und Mädchen gemeinsam unterrichtet werden. "Zusammen sind wir 54 Stück."
Auch Schulhefte aus dieser Zeit hat Manfred Kopp - Oberurseler Lokalhistoriker - aufgehoben und eines für die Festschrift "100 Jahre Gymnasium Oberursel - 1913 bis 2013 gestern, heute, morgen" zur Verfügung gestellt. Es dokumentiert das Nebeneinander von Normalität und politischer Beeinflussung, das auch Historikerin Angelika Rieber bei ihrer Sichtung von Jahrbüchern aus der damaligen Zeit festgestellt hat.
Sie beleuchtet in ihrem Beitrag für die 336 Seiten starke Festschrift, die am Montag in der Schule vorgestellt wurde, den Zeitraum 1933 bis 1945. Rieber geht auch der Frage nach, wie es Schülern jüdischer Herkunft am Gymnasium erging. Dia Ullmann etwa wurde am 3. Oktober 1942, kurz nach ihrem 14. Geburtstag, zu Direktor Liesau bestellt, der ihr mitteilte, dass sie die Schule zu verlassen habe. Der Grund: Dia war "Halbjüdin".
Großes Unrecht
"Die Familie des Mädchens versuchte, darauf zu reagieren", berichtet Rieber. Dias Mutter, Helene Ullmann, ließ sich die Adressen aller Lehrer und Mitschüler ihrer Tochter geben, von denen sich Dia anschließend offiziell verabschieden musste. Denn die Oberurselerin wollte, dass alle mit dem Unrecht, das ihrer Tochter geschah, konfrontiert werden. Helene Ullmann, geborene Gotthard, war übrigens das erste Mädchen, das an dieser Schule das Abitur gemacht hatte. Das war im Jahr 1922 - also zurzeit der Weimarer Republik.
Diese "schwierigen und goldenen Jahre" von 1918 bis 1933 beschreibt Oberursels Stadtverordnetenvorsteher Dr. Christoph Müllerleile (OBG), ebenfalls ehemaliger Schüler des Gymnasiums: "Jeder an der Oberrealschule kannte jeden. Das Lehrerkollegium war mit elf Lehrern und zwei nebenamtlich tätigen katholischen Geistlichen recht überschaubar. Die jüngeren Schüler schauten zu den älteren auf; diese unterstützten die Lehrer bei der Pausenaufsicht."
Was hier Müllerleile für das Jahr 1919 beschreibt - 194 Schüler besuchten damals die Einrichtung - dürfte auch für die folgenden gegolten haben. Denn erst in den 30er Jahren stieg die Schülerzahl signifikant.
Müllerleile hat auch über den wohl bekanntesten Absolventen des Gymnasiums geschrieben: Dr. Dieter Zetsche, der von 1963 bis 1971 die Schule besuchte und inzwischen zu ihren Förderern gehört. Auf die Vermittlung des Daimler-Chefs geht das Begegnungsprogramm mit der privaten "Detroit Country Day School" in Beverly Hills bei Detroit zurück.
Als Zetsche das Gymnasium besuchte, änderte sich dort einiges, vor allem Ende der 60er Jahre. Dieter Höfer - damals Schüler, später Lehrer am GO - erinnert sich in seinem Beitrag an diese Zeit, in der mehr und mehr linksorientierte Lehrer ins ansonsten konservative Kollegium kamen und sich für eine "Demokratisierung der Schule" einsetzten. 1967 bildete sich dann am Gymnasium eine autonome Schülergruppe, die Missstände anprangerte. In Wandzeitungen seien beispielsweise Fälle einer extrem harten und ungerechten Notengebung durch eine Lehrkraft heftig kritisiert worden, so Höfer. Nach einem Schulverweis eskalierte die Situation, wie er beschreibt: 1969 traten mehrere Schüler vorübergehend in einen Hungerstreik.
Auch dieses Ereignis macht deutlich, wie eng die Geschichte der Schule mit der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der jeweiligen Zeit verbunden ist. Zudem wird das Schulgeschehen über wichtige Geschichtsdaten, die den Kapiteln als Zeitstrang vorangestellt sind, in den jeweiligen Kontext gestellt. Ebenfalls aufgeführt ist, "was zu dieser Zeit in Oberursel los war", erläutert Jutta Niesel-Heinrichs. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Ursula Hosselmann und Historikerin Angelika Rieber hat die Lehrerin den Geschichtsteil der Festschrift redaktionell betreut. Die drei haben den Wunsch, dass der Band und die vielen Dokumente, die dafür gesammelt wurden, auch als Unterrichtsmaterial genutzt werden.
Mehr Selbstbewusstsein
Um das "heute, morgen" kümmerten sich federführend die Lehrer Dieter Lober-Sies und Christiane Schichtel. Aus diesem Teil erfahren die Leser einiges über den Neubau des Gymnasiums, der 2012 eingeweiht wurde. Schulleiter Volker Räuber lädt aber zum Beispiel auch dazu ein, ihn auf eine Reise zur "Schule auf dem Weg in die Zukunft" zu begleiten.
In eine Zukunft, in der zum Beispiel Lehrer mehr Selbstbewusstsein haben sollten. "Was die Anerkennung betrifft, rangiert der Lehrerberuf unter den Top Ten. Wann nehmen wir das endlich einmal zur Kenntnis und sind stolz darauf?", schreibt Räuber.
Der Schulleiter weiß, normalerweise laufe eine Festschrift zu einem Jubiläum eher am Rande. "Bei uns sollte sie zentraler Bestandteil sein." Die Begründung folgt sogleich: weil eine Festschrift ein Jubiläum am längsten überdauere.
99 Autoren haben an dem Band mitgewirkt, unter ihnen Stadtarchivarin Andrea Bott, aber auch Schüler wie Clara Becker, Lotti Kusch, Marie Langner und Stephi Zimmer. Sie haben über ihre Klassenfahrt in diesem Jahr nach Schladming geschrieben.
Und was denkt Manfred Kopp, der hier vor 60 Jahren sein Abitur machte, wenn er sich heute in seiner alten Schule umschaut? "Sie ist sehr viel größer", meint er lächelnd und fügt hinzu: Sich in einer Schule aufzuhalten, sei immer auch ein Stück Zukunft.
Die Festschrift "100 Jahre Gymnasium Oberursel" kostet 12 Euro und kann über die Homepage der Schule (www.gymnasium-oberursel.de) bestellt werden.