Wie wird man überhaupt Richter am Staatsgerichtshof? Welcher Qualifikationen welcher Qualitäten bedarf es?
PAUL: Eigentlich müssten Sie das die Mitglieder des Hessischen Landtags fragen, denn die entscheiden über die Positionen. Nur so viel zum rechtlichen Teil: Die hessische Verfassung, die ja die älteste deutsche Verfassung ist, hat nicht vorgesehen, dass man als Richter am Staatsgerichtshof Jurist sein muss. Lediglich eine Minderheit muss aus der Richterschaft kommen. Deswegen gibt es auch keine "Vorbereitung" auf dieses Amt.
Gibt es unter Ihren derzeitigen zehn Kollegen denn einen Nicht-Juristen?
PAUL: Nein, ich glaube, es hat in der Geschichte des Gremiums noch nie einen Nicht-Juristen gegeben. Der hätte es auch schwer. Denn bei den Beratungen wird natürlich sehr viel auf die aktuelle Rechtsprechung verwiesen, was einen Laien oft überfordern kann. Da war die Erwartung der Verfassungsväter wohl etwas zu hoch.
Die (Aus-)Wahl der Richter folgt meist den politischen Mehrheitsverhältnissen. Müssten Sie als Verfassungsrechtler nicht Bedenken haben, wenn sich die zu Kontrollierenden ihre Kontrolleure selbst aussuchen dürfen.
PAUL: Die Fragestellung ist meines Erachtens falsch. Das oberste Organ eines Landes ist das Parlament. Es bestimmt über die Richter am Staatsgerichtshof, aber auch über andere wichtige Funktionen, etwa den Präsidenten des Landesrechnungshofs. Und der hat ja noch viel unmittelbarere und häufigere Prüfungsaufgaben gegenüber Parlament und Regierung. Man kann ein anderes System für die Auswahl von Richtern für gut halten, das politische Gremien bei der Berufung der Verfassungsrichter völlig ausklammert. Aber das wäre dann ein anderes Thema.
Aber viele erinnern sich auch in Hessen an eine sehr stark von der Politik beeinflusste Arbeit des Staatsgerichtshofs, etwa in der Ära Koch. Die Entscheidung über die Zulässigkeit von Studiengebühren führte beispielsweise zu einem klaren Votum gemäß politischer Ausrichtung. Ganz ähnlich ging die Sache beim sehr strengen Kopftuchverbot für Beamte in Hessen aus.
PAUL: Die Politik hat auf keine dieser Entscheidungen auch nur einen Millimeter Einfluss genommen. Und es ist auch falsch, hier von einer einseitigen Urteilsfindung zu sprechen. Ich bin bis heute übrigens ein vehementer Verteidiger von Studienbeiträgen - zum Beispiel weil ich aus meinem Betrieb auch weiß, wie teuer für den Absolventen ein Meisterbrief ist. Außerdem wurde mit den Studienbeiträgen von niemandem eine nennenswerte Leistung verlangt: Niemand brauchte im Studium etwas zu zahlen. Und später im Beruf schuldete er für wenige Jahre jeden Monat gerade einmal 50 Euro. Das kann jeder. In der Universität "Tierärztliche Hochschule Hannover", die ich seit 10 Jahren leite, haben sich Studienbeiträge sehr bewährt.
Aber es gab eben auch ein sehr eindeutiges Minderheitenvotum dazu.
PAUL: Ich habe einen großen Respekt vor Minderheitsvoten, aber ich muss deren Ansichten nicht teilen.
Was Außenstehenden auffiel, war, dass die Frontverläufe der Entscheidungen stets den politischen Verhältnissen im Staatsgerichtshof folgten.
PAUL: Aus meiner Erfahrung von fast 20 Jahren Mitgliedschaft im Staatsgerichtshof kann ich sagen: Wir haben natürlich alle unsere politische Herkunft mitgebracht, aber wir haben durchaus nicht durchgängig politisch entschieden. Das wird häufig falsch eingeschätzt.
Es fällt auf, dass die Verfassungsgerichte der Länder und des Bundes in letzter Zeit stark in gesellschaftliche Entwicklungen eingegriffen haben, siehe Homo-Ehe. Ist das sozusagen die neue Rolle dieser Einrichtungen?
PAUL: Diese Sichtweise ist nicht zutreffend. Natürlich ist jede Entscheidung auch eine Gestaltung oder Umgestaltung, aber die Aufgabe des Gerichtes ist es nicht, die Welt neu zu schaffen, sondern die Verfassung zu verteidigen, stets natürlich auch aus der Perspektive der aktuellen Entwicklungen.
Schließt das die eine oder andere Hilfestellung an die Regierenden ein, die Verfassung auch neu zu interpretieren?
PAUL: Völlig richtig. Die Verfassung ist nichts Statisches, und die entsprechenden Gerichte müssen dazu auch immer wieder neue Wege der Interpretation eröffnen.
Der Staatsgerichtshof hat in jüngster Zeit zweimal die Rechte der hessischen Oppositionsparteien in Untersuchungsausschüssen gestärkt. Lässt sich daraus ein laxer Umgang der Regierungsparteien mit diesen Minderheitenrechten ableiten?
PAUL: Ich glaube, dass der Eindruck falsch ist, aber das mögen später die Geschichtsprofessoren entscheiden. Ich glaube, dass man einfach so weitergemacht hat, wie das bei allen Vorgängerregierungen immer schon üblich war. Doch die Demokratie lebt vor allen von den Minderheitenrechten, von denen ja auch eine funktionierende Kontrolle der Regierenden ausgeht. Deswegen muss diese Position auch stark sein, in die übrigens durch den demokratischen Wechsel jede Partei früher oder später einmal kommt. Deswegen profitieren davon am Ende auch alle.
Der Staatsgerichtshof hat zuletzt durch seine Urteile zu Kindertagesstätten und zum Kommunalen Finanzausgleich zwei wichtige Gesetzesvorhaben der Landesregierung gestoppt. Das widersprach der schon angesprochenen politischen "Verlässlichkeit" des Gerichts in seiner langen Geschichte.
PAUL: Ich werde diese Entscheidungen nicht kommentieren. Das Gericht spricht allein durch seine Urteile. Diese gehorchten jedoch keinesfalls einer politischen Haltung, sondern wir haben zum Beispiel im Fall des Finanzausgleichs eine Praxis, die in Hessen eine 60-jährige Tradition hatte, auf neue Beine gestellt, indem wir eine verlässliche, nachvollziehbare Grundlage für die Ermittlung gesetzlicher Regelungen fordern. Das kann, wie wir in unserem Urteil und in unserer Presseerklärung zu dem Urteil bereits ausgeführt haben, sogar zu einer Schlechterstellung der Kläger, also der Kommunen, führen. Wir haben also das System verändert und nicht etwa Noten an Politiker oder Parteien vergeben.
Haben Sie sich bei Ihren Entscheidungen politisch schon einmal beeinflusst oder gar unter Druck gesetzt gefühlt?
PAUL: Nicht einen einzigen Tag. Ich bin nie auf eine Entscheidung im Voraus angesprochen worden und ich hätte mich davon in meiner richterlichen Unabhängigkeit auch nicht beeinflussen lassen. Da bin ich ein sturer Bock.