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Geschichten aus der Unterwelt

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Der Montagmorgen beginnt für Gregor Dihn in aller Herrgottsfrühe - nämlich um 5.45 Uhr. Da klingelt sein Mobiltelefon, auf das eine Notrufnummer geschaltet ist. "Bitte, Sie müssen sofort herkommen, es ist etwas Schreckliches passiert", tönt es nuschelnd durch den Hörer. Dihn kann sich schon denken, was, zieht sich, das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, an und sagt mit geradezu hypnotisierender Stimme: "Ganz ruhig, wir sind in zehn Minuten bei Ihnen. Geben Sie mir Ihre Adresse und bitte fassen Sie nichts mehr an, bis wir bei Ihnen sind."

Klingt schwer nach einem Rettungseinsatz. Ist es auch. Aber keiner für die Polizei oder für den Notarzt, sondern für den Kanalreiniger. Und genau das ist der Bad Homburger Gregor Dihn. Genauer gesagt lautet die Berufsbezeichnung seines Lehrberufs: Ver- und Entsorger, Fachbereich Abwasser. "So nannte man das früher. Heute heißt das Fachkraft für Rohr-, Kanal- und Industrieservice. Macht ein bisschen mehr her - aber die Finger schmutzig macht man sich dabei trotzdem", sagt der sympathische 42-Jährige und lacht.

 

Die Dritten im Siphon

 

In der Tat macht der Vater zweier Kinder sich an diesem Morgen die Finger schmutzig, und zwar in der Wohnung eines über 80 Jahre alten Seniors. Der war ("Wie jeden Morgen!") um 5.15 Uhr aufgestanden und hatte sich nach seiner Morgengymnastik die dritten Zähne im Bad einsetzen wollen. Dabei fiel ihm das Gebiss in den Siphon. "Keine große Sache, wir schrauben das WC ab, holen die Dritten vorsichtig raus und schon ist wieder alles gut", sagt Dihn und grinst.

Situationen wie diese erlebt er täglich - und zwar zuhauf. Ob es sich um die rüstige Rentnerin im Seniorenheim handelt, die mittags ihre Blumenkübel vom Balkon säubert und mit den Dekosteinen, die ihr ins Waschbecken fallen, die Rohrleitung blockiert ("eine ganz schöne Fummelei, die Dinger da alle rauszuholen"), um Besteck, das in einer Großküche auf wundersame Weise in die Leitung gekommen ist und für eine Überschwemmung sorgt, um Schultoiletten, die verstopft sind - immer sind Dihn und seine neun Mitarbeiter zur Stelle.

 

Kampfmittelräumdienst

 

Neulich etwa. "Das war aufregend", erinnert er sich. Eigentlich sollten die Toiletten eines Objektes in Friedberg gereinigt werden ("die sind leider immer irgendwo verstopft"), aber plötzlich sei die Polizei um die Ecke gekommen, mit dem Kampfmittelräumdienst im Schlepptau. "Wir hatten über unsere Kamera im Abwasserkanal ein nicht zu identifizierendes Objekt gesehen. Keiner von uns konnte sagen, was das ist - in so einem Fall müssen wir übergeordnete Instanzen in Kenntnis setzen und die entscheiden dann." Die Sache in Friedberg ging gut aus - im Schlamm war kein Blindgänger. Aber gut zu wissen, dass Dihns Kamera solche Dinge erfassen kann. Und das geht so:

Die Arbeiter kommen zum Beispiel in einer Straße in Bad Homburg mit einem kleinen Kastenwagen (Anschaffungskosten: 100 000 Euro) an, einem Sprinter, in dem sich ein Haufen ausgeklügelter Technik verbirgt: Schläuche, eine kompakte Hochdruckreinigungsanlage, Pumpen, kleine Kettenfräsen - auf die wir gleich zurückkommen - und eine kleine Kamera, die an einem Schlauch befestigt wird und bis zu 180 Meter tief in den Kanal abgelassen werden kann. Das Gerät sieht ein bisschen aus wie Luke Skywalkers R2D2 in Miniatur. Dihn lacht laut. "Stimmt. Und sein ,großer Bruder’, der Kamera-Fahrwagen, erinnert an irgendeine andere Maschine aus ,Star Wars’. Wird hier bei den Arbeiten in dieser Straße aber nicht verwendet."

Stattdessen schraubt Mitarbeiter Orkan Tam "R2D2" an den Schlauch, dreht diesen langsam von der Rolle und lässt ihn im Dunkeln des Abwasserkanals verschwinden. Auf dem Monitor verfolgt er den Weg der Kamera und sieht, was sie sieht. Eine Ratte zum Beispiel.

 

Ungebetene Gäste

 

"Ungebetene Gäste haben wir immer wieder mal, auch schon einen Frosch, der sich verlaufen hatte", sagt Tam lachend. Der 22-Jährige ist der erste Lehrling gewesen, den Gregor Dihn ausgebildet hat. Momentan macht er seinen Meister. "Das macht mich schon ein bisschen stolz", gibt Dihn zu, der bei der Kläranlage in Bad Homburg seine Lehrzeit verbrachte ("früher haben nur die Kommunen ausgebildet"). Die Sache mit dem Nachwuchs ist ein echtes Problem. "Wir finden kaum gute Leute. Klar, es gibt keine geregelten Arbeitszeiten und man macht sich schmutzig. Das ist der Grund dafür, dass ich mir gesagt habe, dann bilden wir unsere eigenen Leute aus und wissen, was wir an ihnen haben."

"Chef, schau mal, hier sind die Wurzeln. Ich glaube, da müssen wir gar nicht ran." Mit "nicht ran" meint Tam, dass er keine Kettenfräse auspacken muss. Dieses schwer an mittelalterliches Folterwerkzeug erinnernde kleine Instrument wird, sofern Wurzeln und Gestrüpp in den Leitungen zu dicht sind, mit Hochdruck durch den Kanal geschoben und zermalmt auf diese Weise alles, was sich ihm in den Weg stellt. In diesem Fall sind die Wurzeln noch so klein, dass sie nicht weiter stören. "Wir schauen in einem Jahr wieder", befindet Dihn.

Mit vielen seiner Kunden hat er solcherlei Prüf- und Wartungsverträge. Und viele namhafte Kunden hat er auch - etwa die Commerzbank-Arena oder den Maintower. Auch für die Stadt Bad Homburg arbeitet er und für Oberursel - zuletzt beim Hessentag, wo er "ziemlich wenig Schlaf bekommen" hat.

Auch der Frankfurter Flughafen zählt zu Dihns Kunden, dort hat er zuletzt das Kanalsystem unter den Wartungshallen auf Dichtigkeit hin überprüft. "Eine Mordsarbeit", erinnert er sich. Jede einzelne Leitung musste unter Wasser gesetzt und dann geschaut werden, ob sie Blasen wirft, also leckt. Dabei darf der Wasserdruck natürlich weder zu hoch noch zu niedrig sein. Wenn man bedenkt, dass Dihns Einsatzlaster (Anschaffungskosten: 250 000 Euro) mit bis zu 180 Bar Druck arbeitet (ein Autoreifen hat 2 Bar), kann man sich vorstellen, wie gefühlvoll man da vorgehen muss.

Gefühlvoll geht es auch beim nächsten Auftrag in Friedrichsdorf zu. Bei einem Mehrfamilienhaus ist etwas verstopft. "Das merken die Leute in den oberen Wohnungen nicht, aber unten im Erdgeschoss steht dann ganz schnell mal die Brühe", weiß Dihn. Zum Glück hat ihn der Hausmeister des Objekts ("ein guter Draht zu den Hausmeistern ist immer immens wichtig") gleich angerufen, bevor es tatsächlich so weit kommt, denn ihm schwante beim Blick in den Keller Übles.

 

Unter Hochdruck

 

Jetzt stehen die Dihn-Mitarbeiter Michael Dillemuth und Klaus Schnarr im Keller beziehungsweise vor der Tür am geöffneten Kanaldeckel und pumpen, was das Zeug hält. Dillemuth pumpt das saubere Wasser unter Hochdruck rein, Schnarr draußen wieder raus in den Kanal. Laut ist das. Aber niemand kann sagen, dass es müffeln würde. Zumindest draußen nicht. Im Keller riecht es zugegebenermaßen nicht gerade nach Rosen. Gut, dass das Dihn-Team immer Wechselklamotten dabei hat und der Laster mit Seife und Desinfektionsmittel ausgestattet ist.

Das ist deswegen wichtig, weil die Kanalarbeiter oft auch selbst unter die Erde müssen und sich nicht nur auf ihre Kameras verlassen können. Dihn: "Im Untergrund gibt es auch große Bauwerke wie Regenrückhaltebecken oder Zisternen, die wir begehen müssen, um sie zu reinigen. Da führt kein Weg dran vorbei."

Der Job ist auch keiner, bei dem man auf die Uhr schauen darf. "Die Leute verlassen sich ja auf uns. Wer bei uns anruft, bei dem brennt die Hütte, da kann man niemanden vertrösten und sagen, er soll kommende Woche noch mal anrufen", weiß Dihn. Neulich zum Beispiel konnten 400 Mann in einem Oberurseler Objekt ("Wir Kanalarbeiter sind verschwiegene Leute, ich sage nicht, wo das war!") nicht auf die Toilette gehen, weil die Hebeanlage defekt war. "Natürlich sind wir da sofort hingefahren." Leider hat sich das Problem nicht sofort beheben lassen. "Also haben wir im Schichtbetrieb alle vier Stunden abgepumpt", erklärt Dihn fröhlich. Er möchte noch etwas sagen, aber das Telefon klingelt wieder - das tut es eigentlich ständig. Am Apparat ist Dihns Sekretärin Birgit Kötter. "Chef, wir haben einen Notfall in einem Seniorenheim. . . "




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