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Der rote Faden: Der Krisenmanager

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Manchmal starrt er zu Hause auf die Gitarrenkoffer hinter seiner Couch und denkt daran, einfach so spielen zu können wie früher, als er klassische Gitarre gelernt hat. Aber er hat ein bisschen Angst davor, weil er es lange Zeit nicht mehr probiert hat. Manchmal denkt er an Afrika, seinen Sehnsuchtsort. Es musste ja unbedingt etwas aus Afrika mit auf das Foto für dieses Porträt, ein Artefakt, eine Skulptur, wie er sie in seinem Büro im fünften Stock des Gesundheitsamts stehen hat. René Gottschalk braucht nicht zu betonen, wie sehr ihn Afrika in seinen Bann gezogen hat, man spürt es unwillkürlich, wenn er davon erzählt, wie er dort zum ersten Mal aus dem Flugzeug gestiegen ist, ihn die Luft wie in Watte packte und er ein Gefühl der Wonne verspürte, so stark, dass er am liebsten von der Fluggastbrücke gesprungen wäre. Für die Nächte, in denen er in einen nackten Himmel blickte, den kein fremdes Licht verschleierte, umgeben von den Geräuschen der Wildnis, findet er kein originelleres Wort, kein deutlicheres als dieses: "schön". Er würde dort wohl jeden Urlaub verbringen. Aber er kann nicht. Auch deshalb ist Afrika ein Sehnsuchtsort, und dass er diese Sehnsucht möglicherweise nie mehr wird stillen können, hat mit einem anderen starken Moment seines Lebens zu tun, in dem sich das Gegenteil dieses afrikanischen Glücksgefühls eingestellt hat.

 

Harter Schlag

 

Am 20. August 2011 erlitt René Gottschalk, damals 54, einen Schlaganfall. Rechtsseitig war er gelähmt, seine Sprache hatte er verloren, schreiben konnte er nicht mehr, heute ist das nicht einmal mehr zu erahnen. Keine drei Monate nach diesem Tag saß er, der Leiter des Frankfurter Gesundheitsamtes, wieder an seinem Schreibtisch, anfangs nur kurz, dann immer häufiger, immer länger. Ein halbes Jahr nach seinem Schlaganfall war er wieder vollständig im Einsatz, nicht nur im Amt, auch an der Universität. Professor für Öffentliches Gesundheitswesen ist er ja obendrein, die 40-Stunden-Woche für ihn bloß Theorie, eine wahrlich graue. Er sagt oft: "Ich liebe meine Arbeit."

So spricht einer, der auf Umwegen zu dem geworden ist, was er heute ist, der viele Talente in sich vereint, der zwei Doktortitel erworben hat. Bio-Ingenieurwesen hat er in Gießen studiert, bei der Hoechst AG gearbeitet; 1983 entschied er sich, Medizin zu studieren, arbeitete fortan nur noch als freier Ingenieur, tauschte den Sportwagen gegen einen Polo ein, begann 1990 in der Radiologie in einem Offenbacher Krankenhaus, wechselte 1990 an die Uniklinik Frankfurt in die Innere, erkannte, wie sehr ihn die Arbeit mit Patienten erfüllt, entdeckte dann seine Leidenschaft für die Infektiologie, für die Schattenwelt der Viren und Keime also, und für Strategien, wie man sie in Schach hält und verhindert, dass sie ihr Potenzial als der Menschheit größte Feinde des 21. Jahrhunderts entfalten können.

In seinen Vorlesungen will er diese Leidenschaft weitergeben, seine Erfahrung, will den Nachwuchs für diesen Kampf wappnen. "Die Stadt schützen", sagt er, darum gehe es. Im Gesundheitsamt fand er die Möglichkeit, sein Wissen praktisch anzuwenden, zu gestalten, zu organisieren. 1998 wechselte er vom Krankenhaus in die Behörde und baute dort die Abteilung für Infektiologie auf, 2011 berief ihn Gesundheitsdezernentin Manuela Rottmann auf den Chefstuhl. "Wir können sehr glücklich sein, einen so hochkarätigen Krisenexperten im Amt für Gesundheit zu haben", sagte sie.

Er hat viel erreicht in den 15 Jahren, selbst würde er da so nie formulieren, auf das "Wir" verweist er in jedem Satz, lobt seine gut 200 Mitarbeiter, die Mediziner am Frankfurter Flughafen, die Ärzte in den Kliniken, lobt vor allem die Politik, die sich für ihn erkennbar einem Geist verpflichtet fühlt, für den er, 1956 in Höchst als drittes Kind eines Arzt-Paares geboren, in Praunheim aufgewachsen, seine Heimatstadt schätzt: Gemeinschaftssinn, Verantwortungsbewusstsein, die tiefe Einsicht darin, dass sich eine wohlhabende Kommune daran messen lassen muss, wie sie mit ihren ärmsten Bürgern umgeht, dass Gesundheitspolitik zwingend auch Sozialpolitik ist und umgekehrt.

Er nennt Beispiele: Neun Hebammen sind im Einsatz für die Betreuung hilfsbedürftiger Familien; die sogenannte humanitäre Sprechstunde nutzen Hunderte von Menschen, die aus verschiedenen Gründen, etwa weil ihr Aufenthaltsstatus ungeklärt ist, durch das Raster der Gesundheitsversorgung gefallen sind; aktuell baut das Amt mit der Uni eine studentische Sprechstunde auf, in der angehende Mediziner ihre Dienste anbieten werden, die Senckenberg Gesellschaft unterstützt das Projekt. "Es gibt in Frankfurt die Bereitschaft dafür, anderen zu helfen", sagt er. Und andersherum: "Ich würde diesen Job in vielen anderen deutschen Städten nicht machen wollen."

Eine Geschichte verdeutlicht eindrucksvoll, was er meint: Juni 2006, ein heißer Monat, das Land ist im Fußball-WM-Rausch, da landet ein Mann am Frankfurter Flughafen. Er ist aus Afrika eingereist und fährt nach Hause, nach Münster in Westfalen. Es geht ihm schlecht, eine starke Grippe scheint im Anflug zu sein. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Er trägt das hochgefährliche Lassa-Virus in sich. In Münster verschlimmert sich sein Zustand binnen weniger Tage dramatisch. Als die Diagnose gestellt ist, soll der Mann in die Uni-Klinik Hamburg gebracht werden. Die Zeit drängt. Doch Hamburg lehnt ab, "was man verstehen kann", sagt René Gottschalk heute. Das Risiko war extrem groß, Lassa ist hoch ansteckend - und oft tödlich.

 

Eine Rettung

 

In Frankfurt aber berät sich René Gottschalk mit Ärzten, sie fällen eine Entscheidung, gegen alle Chancen, wie man so sagt - und die Stadt unterstützt sie. Einen Tross mit Krankenwagen anführend, fährt René Gottschalk in der Nacht nach Münster und holt den Fiebernden ab, muss auf der Rückfahrt einen Landrat davon überzeugen, durch dessen Landkreis fahren zu dürfen. Gottschalk und sein Team bringen den Kranken schließlich in die Uniklinik Frankfurt. Der Mann überlebt.

Weil eine Gesellschaft wie unsere die Möglichkeit hat, viel Aufwand zu betreiben, viel Geld zu investieren, um ein Menschenleben zu retten - dafür dient ihm diese Geschichte. Dass es nie falsch sein kann, alles zu versuchen, darin bestärkt ihn diese Erfahrung. Er hat es ja oft genug andersherum erlebt, in Afrika vor allem, wo er Menschen hat sterben sehen an Infekten, die behandelt werden könnten, wenn mehr Geld gegeben, wenn umsichtiger gehandelt, wenn mehr guter Wille gezeigt würde. Kein Hexenwerk ist da vonnöten. Wieder gibt er ein beeindruckendes Beispiel, erzählt von der Malaria, die vor allem Kinder in Scharen dahinrafft, und wie dann eines Tages in einer Region Burundis Moskitonetze gekauft und mit Insektengift besprüht worden seien, jede Menge, für lächerliches Geld, endlich. Sieben Kinder waren dort zuvor pro Woche gestorben, danach drei in drei Monaten. "Verstehen Sie? So einfach!"

Wenn seine Stimme lauter wird, schriller auch, wenn das Lächeln in seinem jungen Gesicht gefriert, wird spürbar, wie sehr ihn das alles empört. Dass die Entwicklungshilfe jeden Euro nur investiere, um wirtschaftlich zu profitieren. Dass Industrieländer ihren Reichtum auf dem Rücken der Armen erwerben, indem sie mit deren Nahrung spekulieren, die Arbeitskraft ausbeuten. "Ich bügle jeden Abend meine Hemden mit sauberem Wasser aus drei Kränen, und in der Dritten Welt haben die Menschen nichts zu trinken", sagt er. Und dass alle das wüssten, aber niemand etwas tue. René Gottschalk, Amtsleiter einer der reichsten Kommunen dieser Welt, der jeden Tag auf dem Weg von der Arbeit in der Innenstadt nach Hause in Liederbach an den Banktürmen vorbeifährt, sagt: "Die Globalisierung ist die schlimmste Form des Imperialismus."

Ein Humanist, geprägt von christlichen Werten, so sieht er sich. Religiös ist er nicht, man muss es auch nicht sein, um in einer Prophezeiung zur Globalisierung das Apokalyptische zu erkennen: Dass die arme Welt dereinst über die reiche kommen könnte, mit Viren und Keimen, mit Krankheiten, todbringenden, eingeschleppt über die großen Flughäfen. Vogelgrippe und SARS waren Vorboten, aktuell warnt die Weltgesundheitsorganisation vor neuartigen Coronaviren. Die Gesellschaft vergisst schnell, weil es bislang noch gutgegangen ist, und wann immer ein neues Virus René Gottschalk, den Stadtschützer, beunruhigt, alarmiert, weil es seine Aufgabe ist, vom schlimmsten Fall auszugehen, mahnt die Politik, mahnen die Medien Ruhe an, dabei bleiben alle erstaunlich ruhig. Der Infektiologe kann darüber nur den Kopf schütteln, wundern tut er sich nicht mehr. "Die Menschen sind nie panisch geworden bei Seuchen. Selbst bei der Pest nicht."

Der schlimmste Fall war 2009, als sich die Schweingerippe in rasender Geschwindigkeit über die Welt verbreitete, nicht mehr fern. Im März waren die ersten Toten in Mexiko gemeldet worden, der Ferienort Cancun galt als Ursprungsregion, im April griff das Virus auf die USA über, und am Frankfurter Flughafen begann sich praktisch zu bewähren, was weltweit einmalig ist und von Experten das "Frankfurter Modell" genannt wird: die systematische Zusammenarbeit und der permanente Informationsfluss zwischen Flughafen und Gesundheitsamt. Passagiere wurden auf mögliche Symptome befragt, wurden über die Tücken des Virus informiert, jeder, der als möglicher Virusträger identifiziert wurde, wurde so schnell wie möglich untersucht. Kaum zu glauben, dass sie in New York und London, den anderen Haupteinfallstoren, solch ein Programm nicht entwickelt haben.

 

Noch mal Glück gehabt

 

Etwa 250 000 Schweinegrippeinfizierte sind in Deutschland registriert worden, 250 sind gestorben, in anderen Ländern war die Sterblichkeit höher. "Wir haben Glück gehabt", sagt René Gottschalk. Denn da existiert ja wirklich diese Schattenwelt, auf die kein Krisenplan, kein Krisenmanagement einen Einfluss hat. Das Schweinegrippevirus geht von Mensch zu Mensch auch in der Phase, in der noch keine Symptome zu spüren sind. Glück gehabt heißt im Umkehrschluss: Ein gefährlicheres Virus wäre verheerend gewesen.

Dass alle Strategie, alle Vorbeugung, alle Statistik im Angesicht einer Katastrophe an ihr Ende kommen können, erfährt der Mensch zuweilen im Großen wie im Kleinen. Wenn René Gottschalk, der Krisenmanager, der auch die Bundesregierung berät, von dem Tag erzählt, als sein Körper ein Krisengebiet wurde, schwingt nach wie vor auch die Überraschung mit. Er raucht nicht, er trinkt kaum Alkohol. Regionalligaspieler im Badminton war er und hält sich bis heute in Bewegung. Er ernährt sich gesund, er weiß zu entspannen, ist ein lebensfroher Typ, mag die Kunst, die Literatur, die Oper. Rein statistisch betrachtet war sein Schlaganfall-Risiko gering, an eine Patientenverfügung, eine Vorsorgevollmacht für seinen 20-jährigen Sohn, für seine Lebensgefährtin, hatte er nie auch nur einen Gedanken verschwendet.

Er hat in den Wochen nach dem Schlaganfall einen Entschluss gefasst. Der Bruder half ihm, wo er nur helfen konnte, die Schwester, Sprachheilpädagogin, übte vier Wochen lang mit ihm, acht Stunden am Tag. "Ich will schnell wieder so sein wie vorher", hatte er den Ärzten gesagt. Er hat es geschafft mit der eisernen Disziplin, die ihn seit jeher auszeichnet. Eiserne Disziplin. Er mag das so nicht nennen. "Ich liebe meine Arbeit." Der Gedanke, dass sein Körper die Dauerbelastung spürt und von dieser Liebe nichts weiß, behagt René Gottschalk, Mediziner, Krisenmanager, Stadtschützer, gar nicht.

Nächste Woche: Den roten Faden gibt René Gottschalk an Tobias Rehberger weiter. Der Prorektor der Städelschule zählt zu den großen Künstlern unserer Zeit.

 




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