Addi ist nicht mehr. Acht Jahre lang war er ein regelmäßiger Gast bei Rolf Hennes, kam sommers wie winters zum Haus des heute 59-Jährigen in der Bad Homburger Tannenwaldallee. Dort holte sich der schwarz-weiße Geselle mit dem kecken roten Hinterkopfhäubchen etwas Futter auf dem Garagendach, gelegentlich präsentierte er bei dieser Gelegenheit auch seinen Nachwuchs, wie voriges Jahr, als er mit zwei Jungen eine Stippvisite machte. Aber diesen Winter hat der Buntspecht wohl nicht überlebt, glaubt Hennes. Zumindest habe er Addi zuletzt im Februar gesehen, seither sei er von der Bildfläche verschwunden - genau wie sein Weibchen Carmen, mit dem er seit über vier Jahren zusammen war.
Generell hat die zurückliegende kalte Jahreszeit ihren Tribut gefordert. "Ich habe noch nie erlebt, dass so viele Vögel verschwunden sind", bedauert Hennes, während er in Gummistiefeln auf einem schmalen matschigen Pfad durch den Großen Tannenwald stapft. In dem zur Landgräflichen Gartenlandschaft gehörenden Forst ist der Mann mit der Schiebermütze derzeit nahezu täglich unterwegs. Denn trotz des Aderlasses im Winter haben sich dort wieder zahlreiche Spechtpaare angesiedelt, die nun im Dauerstress sind - schließlich ist Brutzeit.
Ringe für die Koalition
"Da drüben ist die Höhle eines Buntspechts", sagt Hennes, weist auf eine dicke Eiche und baut ein Stativ mit einem montierten Spektiv auf, wie sich das dicke Fernrohr nennt, das Vogelbeobachter oft einsetzen. Tatsächlich, im Okular taucht ein Vogel mit Futter im Schnabel auf, krallt sich an den Baumstamm und verschwindet kurz darauf in dem Loch, um seine Jungen - im Schnitt sind es ein bis sechs Jungspechte - zu füttern. Ende April hätten die Spechte zu brüten angefangen, erzählt Hennes. "Normalerweise beginnt die Phase bereits Anfang April, aber dieses Jahr hat sich alles verzögert."
Weiter geht’s, nach ein paar Minuten richtet Hennes das Spektiv auf einen abgestorbenen Baum aus. Eine typische Niststelle für einen Mittelspecht, den kleinen Bruder des Buntspechts. Warten auf das so scheue Federtier, das meist eher zu hören als zu sehen ist und manchmal wie ein Phantom der Wälder anmutet. Bei schönem Wetter seien die Spechte aktiver, sagt der Experte. Da sei es leichter, Raupen zu finden, eine der Hauptnahrungsquellen von Picidae, so der lateinische Gattungsname. Endlich, nach ein paar Minuten, kommt der Vogel angeflogen, nur um den Beobachtern Sekunden später seine aus der Höhle herausragenden Schwanzfedern zu präsentieren.
Szenen wie diese wiederholen sich im Laufe der nächsten Stunde im Bad Homburger Stadtwald. Immer wieder bleibt Hennes stehen und macht auf Bäume aufmerksam, in denen der "Zimmermann der Wälder" in luftiger Höhe seine Höhle gemeiselt hat, wie das in der Vogelkundler-Sprache heißt. Der Hobby-Ornithologe kennt alle Behausungen nebst deren Bewohner, denen er Namen wie Daisy, Paul, die erwähnten Addi und Carmen, Alemannia oder Koalition verpasst hat. Letzteres ist übrigens die Bezeichnung für ein Buntspechtpaar, das Hennes in den Farben Schwarz-Gelb beringt hat.
Das alles hat Methode. Schließlich ist der promovierte Bauingenieur im Dienste der Kfw-Entwicklungsbank so etwas wie ein Specht-Papst in der hessischen und deutschen Vogelkundler-Szene, wenn nicht sogar darüber hinaus. Seine Reputation hat er sich vor allem mit einer Langzeituntersuchung erworben. Dabei erforscht er auf einem mittlerweile 48 Hektar großen Gebiet systematisch das Leben der Bunt- und Mittelspechte.
In der Falle
Ortswechsel. Von seinem Beobachtungsplatz im Esszimmer seines Hauses hat Rolf Hennes freie Sicht auf das Geschehen in seinem Garten. Vor allem aber hat der Ornithologe im Blick, was sich auf seinem Garagendach tut. Dort befindet sich ein Käfig mit einer Futterstation, die eine unwiderstehliche Anziehungskraft hat. Mal ist es eine Meise, die ein paar Körner aufpickt, dann ein Kleiber, bis sich schließlich ein Buntspecht herantraut. Hennes zieht an der Schnur, die vom Käfig bis zu seinem Platz am Fenster gespannt ist: Zack, sitzt der Vogel in der Falle.
Der Rest läuft routiniert ab. Hennes holt den Specht aus dem Käfig, untersucht Gefieder, Schnabel, Krallen und Körperfett. Letzteres geschieht, indem er kurz in die Federn bläst. Schließlich wird der Specht gewogen, fotografiert, und zum Schluss werden die Daten in eine Excel-Tabelle eingetragen. Das war’s. Der Specht, der die Prozedur relativ gelassen über sich hat ergehen lassen, hat seine Schuldigkeit getan und macht sich schnell aus dem Staub.
"Für die Vögel ist das nicht unbedingt ein Vergnügen", weiß Hennes, der aber die Daten für sein Forschungsprojekt braucht. Begonnen hat dieses im Winter 2005, als er erkannte, dass sich direkt vor seiner Haustür ein Tummelplatz für Spechte befand. Das entfachte die alte Leidenschaft des gebürtigen Rheinländers. "Ich habe mich seit meiner Jugend für Vögel interessiert und schon während der Studienzeit beringt", erzählt der Bauingenieur. So fing er an, die Spechte mit farbigen Markierungen an den Beinen zu versehen - mit einer Genehmigung versteht sich, für die er erst seine Qualifikation nachweißen musste. Diese läuft über die Vogelwarte Helgoland und ist jeweils auf drei Jahre befristet.
Im ersten Frühjahr suchte Hennes dann nach den Tieren und ihrer Brut. Die Neugierde entwickelte sich zum Forschungsprojekt, bei dem Hennes zum Beispiel weltweit zum ersten Mal das Brutverhalten der Buntspechte unter die Lupe nahm und dabei erstmals in Europa auch eine pikante Entdeckung machte: Bei den Vögeln herrscht Vielmännerei, das heißt ein Weibchen brütet schon mal mit zwei Männchen gleichzeitig und macht sich auch gerne im Lauf des Brutgeschäfts aus dem Staub. "Der Mittelspecht hat hingegen ein solides Familienleben", weiß Hennes, der auch Mitglied der Hessischen Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz (HGON) ist und sich bereits früher in einer ornithologischen Vereinigung engagiert hatte.
Neben seiner Forschungsarbeit organisiert Hennes Führungen, hält regelmäßig Vorträge wie bei der Fachgruppe Spechte der Deutschen Ornithologengesellschaft und hat seine Untersuchungsergebnisse in dem von der HGON herausgegebenen Buch "Vögel in Hessen" veröffentlicht. Außerdem organisiert er Spechtführungen wie erst kürzlich wieder im Großen Tannenwald oder demnächst für eine Schulklasse. Und natürlich versteht er sich als Lobbyist, der sich dafür einsetzt, dass die Spechte genügend Lebensraum haben, was in Bad Homburg und auch in anderen Regionen offenbar nicht immer einfach ist (siehe ZUM THEMA).
Traumhaft schön
Das ist aber nur eines von vielen Themen, die Hennes in Sachen Spechte umtreibt. "Das ist ein traumhaft schöner Vogel, der hochgradig spezialisiert ist", kommt der 59-Jährige geradezu ins Schwärmen von seinem Objekt der Studienbegierde. Das wird ihn wohl auch noch in den kommenden Jahren in Atem halten. "Das Schönste an dem Hobby ist: Wenn man eine Frage beantwortet hat, kommen zwei neue auf", sagt Hennes. So sei bisher kaum etwas über die Zeit bekannt, wenn die Jungvögel flügge geworden sind und ihr "Elternnest" verlassen.
"Ich werde versuchen, mich damit zu beschäftigten", blickt der Ornithologe in die Spechtforschungs-Zukunft. Die Sache ist nämlich die: Um ein weiteres Geheimnis des Vogels lüften zu können, setzt Specht-Fan Hennes auf die Technik. Genauer gesagt möchte er den Vögeln einen GPS-Sender anheften, um deren Aktionsradius verfolgen zu können. Den Sender gebe es bereits für größere Vögel, nicht aber solche von der Dimension der Spechte. Darum soll sich nun die Max-Planck-Gesellschaft kümmern, mit der Hennes bereits Kontakt aufgenommen hat.
Für Addi dürfte die Technik jedenfalls zu spät kommen, falls er nicht doch noch überraschend auftaucht. Damit ist jedoch kaum zu rechnen, zumal der Specht mit seinen acht Jahren sowieso zu den ältesten beringten und wohl am besten erforschten Vertretern seiner Art in Europa gehörte. Aber vielleicht kann die Technik bei seinem Nachwuchs zum Einsatz kommen. Einen Addi-Spross glaubt Hennes nämlich in einer Eiche im Tannenwald entdeckt zu haben. Dort könnte dieser mit seiner Partnerin in einer Bruthöhle die nächste Generation auf den Weg bringen.