Manchmal ist es nur ein kleiner Schritt bis zur Katastrophe. Da will der Vater zur Konfirmation seiner Tochter einen Anzug anziehen - und stellt einige Wochen vor dem Ereignis fest, dass er nicht mehr hineinpasst. Die Tochter zieht ihn amüsiert ob der Gewichtszunahme auf, findet es aber nach einigen Wochen falsch, dass Papa zum Abendessen nur noch eine Banane isst. Also übt sie sich selbst im Verzicht. Und landet, ohne es richtig zu merken, in der Magersucht.
Nein, diese Geschichte ist nicht frei erfunden, sondern hat sich im Leben von Beke Worthmann zugetragen. Die Zwölftklässlerin erkrankte mit 13 Jahren an Anorexie. Heute hat sie die Krankheit überwunden - nach Klinikaufenthalten und Psychotherapie. Bei dem Versuch, das verzerrte Selbstbild geradezurücken, hat ihr ein Buch geholfen; und zwar eines, das sie selbst geschrieben hat.
In "Dein Leben hat Gewicht" erzählen zehn Magersüchtige und auch Beke ihre Krankheitsgeschichte. Am Donnerstag saß die junge Autorin auf dem Podium einer Diskussionsrunde, zu der das Kaiserin-Friedrich-Gymnasium (KFG) geladen hatte. Der Titel: "Wa(h)re Schönheit".
Dürre, krumme Beine
Neben Worthmann, deren Schicksal viele Gäste - vornehmlich Mädchen und ihre Mütter - berührte, nahmen vier andere Teilnehmer auf dem Podium Platz, die täglich mit dem Bild von Schönheit, Mode und deren Auswirkungen in Berührung kommen: Helmut Fricke, Redaktionsfotograf der FAZ, Professor Fritz Poustka, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Dr. Alfons Kaiser, bei der FAZ verantwortlicher Redakteur für das Ressort "Deutschland und die Welt", der auch als Moderator fungierte, und Model Jana Drews. Auch sie hat Bekanntschaft mit der Magersucht gemacht - ihre Schwester litt darunter.
Was zu der Frage führt: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Essstörungen und dem in der Öffentlichkeit oft verzerrt dargestellten Bild von Schönheit? Durchaus, sagt Poustka. Immerhin sei die asketische Haltung beim Essen heutzutage gesellschaftlich anerkannt. "Man wird bewundert, wenn man nicht isst." Im Modebusiness nimmt das nach Angaben von Model Jana mitunter skurrile Züge an. "Mussten bei dir schon Couture-Kleider hinten aufgeschnitten werden, damit du reinpasst?", fragt Moderator Kaiser. "Auf jeden Fall", entgegnet das Model. "Manche Couturiers schneidern so schmal, dass man mit ,normal"-schlanken Maßen kaum reinkommt." "Das Problem ist - da stehen dann 500 andere Models Schlange", weiß Foto-Profi Fricke. Natürlich seien viele von ihnen sehr dünn. So dünn, dass ein Foto der "dürren, krummen Beine" unterm High-Fashion-Kleid "furchtbar aussieht". An seinen Bildern habe er nie manipulieren lassen, aber im Bereich der Hochglanz-Magazine sei es gang und gäbe, bei der Inszenierung von Mode am Model zu retourschieren.
Stress durch Hunger
Das allerdings ist die Art von Schönheit, wie sie der Öffentlichkeit immer wieder vorgegaukelt wird. Gerade jungen Mädchen vermittelt sie ein falsches Bild davon, was schön ist, denn die Bilder entsprechen einfach nicht der Realität. Umso fataler, dass sie Pubertierenden oft als Leitbild dienen.
Hinzu kommt, was das Thema "schön gleich schlank" betrifft, noch folgende Problematik: Wer hungert, setzt Stresshormone frei. "Das führt dazu, dass man tatsächlich erst einmal bessere Laune bekommt", sagt Poustka. So sei es anfangs auch bei ihr gewesen, erinnert sich Beke. "Es gab mir ein, zwei Monate lang einen Kick. Dann wurde das Hungern normal. Dann folgten Phasen der Depression und schließlich der körperlichen Grenzen - sogar das Treppensteigen fiel mir schwer."
Wem das noch nicht als Mahnung reicht, hier noch die Statistik, wie Poustka sie nennt: Magersüchtige hinterlassen ihren Nachkommen eine schwere Hypothek. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass auch ihre Kinder eine Essstörung entwickeln, liegt 10 bis 20 Mal höher als bei Menschen mit einem gesunden Verhältnis zum Essen.