Wie zufrieden sind Sie denn mit dem Verlauf der Frankfurter Maikundgebung des DGB?
HARALD FIEDLER: Natürlich zufrieden, was die Teilnehmerzahl und die Stimmung anbelangt. Wir waren etwa 8000 bis 10 000 Teilnehmer; also wesentlich mehr als in den vergangenen Jahren. Unzufrieden, weil die NPD hier auftreten wollte und unsere Themen in den Hintergrund gerückt sind und mehr die Auseinandersetzung mit der NPD eine Rolle gespielt hat.
Der 1. Mai ist der Tag der Gewerkschaften - "Unser Tag" hieß es in der Einladung. Ist man der NPD auf die Schippe gesprungen, weil sich auch alle Redner so ausführlich damit beschäftigt haben?
FIEDLER: Wenn diese braune Brut hier auftritt, muss man Flagge zeigen und den Anfängen wehren. Man muss aber auch an diesem Tag seine eigene Identität bewahren. Ich glaube, das ist uns an diesem Tag gelungen. Wir haben gesagt: Wir lassen uns nicht von den Neonazis durch die Stadt treiben. Wir halten an unserer Maikundgebung am Römerberg fest und setzen dort deutliche Zeichen gegen den Auftritt der Neonazis. Weil wir an diesem Platz geblieben sind, konnte die NPD ihre Kundgebung nicht in der Innenstadt durchführen, sondern irgendwo in der Pampa.
Aber alle Rednerbeiträge haben sich mit den Neonazis beschäftigt. Hat man da nicht eine kleine Minderheit unnötig aufgewertet?
FIEDLER: Wir haben mit unseren Rednern unsere Themen in den Vordergrund gestellt. Das hat man auch am Beifall gemerkt.
Der Komiker Karl Valentin hätte für solche Fälle wie den der NPD-Demo den Rat gegeben: "Noch nicht einmal ignorieren!" Müssen die Gewerkschaften nicht überlegen, ihre eigenen Themen in den Vordergrund zu rücken anstatt sich im Protest gegen die Neonazis vereinnahmen zu lassen?
FIEDLER: Mir stehen die Gewerkschaftler, die in den Konzentrationslagern gesessen haben, näher als Karl Valentin. Die haben gesagt: Den Anfängen wehren! Das haben sich die Gewerkschaften zu eigen gemacht.
Was sehen Sie derzeit als das drängendste Problem für Arbeitnehmer?
FIEDLER: Wir haben eine prekäre Beschäftigung in weiten Bereichen unseres Arbeitslebens. Das muss geändert werden. Wir haben eine exorbitante Zunahme der Leiharbeit. Sie hat sich von 2003 bis 2011 vervierfacht. Wir haben in Frankfurt ein Zunahme der Minijobs. 60 Prozent aller neuen Arbeitsverhältnisse sind nur befristet. Trotz Gejammer der Arbeitgeber über Facharbeitermangel werden 40 Prozent der ausgebildeten jungen Leute nicht eingestellt. Wir müssen eine Neuordnung der Arbeit herbeiführen.
Erreichen die Gewerkschaften mit ihren Forderungen und Programmen die Arbeitnehmer?
FIEDLER: Ja, wieder verstärkt. Wir hatten im vergangenen Jahr Zuwächse bei den jungen Menschen und den Arbeitnehmern in den Betrieben. Auch die Kampfbereitschaft ist wieder da. Wir haben in den letzten Tagen gesehen, dass die Lufthansa-Mitarbeiter sehr gut mobilisiert haben. Die Warnstreiks der IG Metall laufen hervorragend. Wir können zufrieden sein.
Wie beurteilen Sie die Steuererhöhungspläne von SPD und Grünen aus Gewerkschaftssicht?
FIEDLER: Ich habe mir angeschaut, was die SPD vorgeschlagen hat. Ich habe mir die Tabelle angeguckt: Wer als Alleinverdiener 60 000 Euro brutto verdient, soll im Jahr sechs Euro mehr Steuern zahlen. Ich verdiene nicht so viel. Also zahle ich keinen Cent mehr. Wer 90 000 Euro im Jahr verdient, zahlt 18 Euro im Jahr mehr. Ich finde es toll, dass SPD und Grüne sagen, wir wollen die Steuern erhöhen, aber nicht für die Krankenschwestern und Polizisten.
Aber bei den 60 000 Euro ist der Facharbeiter in der chemischen Industrie schon betroffen.
FIEDLER: Wenn er denn mit sechs Euro im Jahr betroffen ist, wird jeder Facharbeiter sagen: Wenn ich da für mein Kind eine vernünftige Bildung kriege oder für meine Oma einen Platz im Pflegeheim bekomme, dann zahle ich die sechs Euro gerne.
Bleiben wir bei diesem Facharbeiter: Wenn das Weihnachtsgeld fällig wird, dann zahlt er jetzt schon an Steuern und Sozialabgaben mehr als 40 Prozent vom Brutto. Kriegen Sie da nicht ein Motivationsproblem?
FIEDLER: Das glaub’ ich nicht. Die Menschen sind so klug, dass sie wissen, dass der Staat und die Sozialkassen auch Geld brauchen. Wer bei der Krankenversicherung auf die Privaten gesetzt hat, merkt jetzt, dass diese das Versprochene nicht auszahlen, wenn die Menschen älter werden. Sie erhöhen ständig ihre Beträge.
Genau dann brauchen die Menschen mehr Geld in der eigenen Tasche . . .
FIEDLER: Die Arbeitnehmer wollen sich ja nicht privat versichern. Sie wollen in der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung bleiben. Dafür zahlen sie gerne mehr. Es werden im Übrigen die Steuern angehoben.
Bei den Grünen sollen sie noch mehr steigen als bei der SPD.
FIEDLER: Ja, aber das ist minimal.
Glauben Sie wirklich, dass man mit Steuererhöhungen Wahlen gewinnen kann?
FIEDLER: Natürlich kann man das. Es kommt immer darauf an, wem ich höhere Steuern auferlege. 80 Prozent der Bevölkerung sind von den Steuererhöhungsplänen von SPD, Grünen und Linke gar nicht betroffen.
Aber die 60 000 Euro Jahreseinkommen sind in einer Stadt wie Frankfurt, wo das Lohnniveau hoch ist, ein Betrag, den nicht wenige verdienen.
FIEDLER: Ich glaube, es ist eine Mär, dass in Frankfurt die größte Zahl der Menschen mehr als 60 000 Euro im Jahr verdient. Das Durchschnittseinkommen in Frankfurt ist zwar sehr hoch. Es liegt etwa im Monat bei brutto 3400 Euro. 20 Prozent liegen über den 60 0000 Euro. 80 Prozent liegen darunter. Aber die große Masse ist überhaupt nicht betroffen.
Sie haben die Einführung einer Vermögenssteuer gefordert. Deutschland ist im internationalen Vergleich mit seinen Steuersätzen durchaus im oberen Drittel.
FIEDLER: Ja, das wird immer interpretiert, je nachdem, wer die Statistik erstellt. Selbst wenn man sagt, wir liegen im oberen Drittel, dann haben wir im Verhältnis zu unserer Produktivität und zu unserer Wirtschaftskraft geringe Steuern. Da ist noch Spielraum nach oben.
Warum setzen sich die Gewerkschaften nicht für Einsparungen ein, um Steuererhöhungen zu vermeiden?
FIEDLER: Natürlich sind wir für Einsparungen. Wir sagen: Wir brauchen nicht die hohen Rüstungsausgaben.
Da ist aber gewaltig gespart worden seit dem Fall des Eisernen Vorhangs.
FIEDLER: Weil man zusammengerechnet hat, was ausgegeben worden ist in der DDR und in der Bundesrepublik. Aber nehmen Sie die verrückten Projekte: Stuttgart 21. Oder heruntergebrochen auf Frankfurt: der Wiederaufbau der Altstadt, den neunten Magistratssitz. Also es gibt viele Dinge, die der Bürger nicht braucht.
Wir haben ja derzeit den Fall eines sehr populären Steuersünders. "Wir lassen uns nicht mehr ver-hoeneßen", sagten Sie auf der Maikundgebung vor Ttausenden von Menschen. Was meinten Sie damit?
FIEDLER: Wir bekommen ständig gesagt, dass wir in diesem Land die Leistungsträger halten müssen. Wenn sie bei uns im DGB-Haus auf die Reichtumsuhr im Schaufenster schauen, sehen sie: Zehn Prozent der Menschen in Deutschland haben acht Billionen Euro Privatvermögen. 90 Prozent haben den mickrigen Rest. Da kann man nicht sagen: Das ist in Ordnung. Wir lassen uns nicht ver-hoeneßen, d.h. verhöhnen. Wir sind diejenigen, die Tag für Tag malochen, während die anderen nur Gelder hin- und herschieben, also dem Zocken verfallen sind, wie Hoeneß selbst gesagt hat.