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Die Unermüdliche

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Ihre Geschichte mit dem Tod zu beginnen, mag unangemessen erscheinen, trägt sie mit ihren 90 Jahren doch noch so viel Freude und Kraft in sich. Alle zwei Wochen fährt sie mit ihrem Auto vom Bodensee nach Frankfurt, im Kofferraum die Kiste mit Äpfeln für die Redaktion, den Kalender voll mit Festakten, Vernissagen, Begegnungen, mit ihrer Gesprächsrunde im Caféhaus auch, initiiert und moderiert von ihr. Und erst diese wachen Augen, in denen sich Neugier und Begeisterung spiegeln, die sich zu Schlitzen verengen, wenn ihr was gegen den Strich geht. Aber vor allem diese Autofahrten, 400 Kilometer, alle Achtung… "Ja, was glauben Sie denn?", unterbricht Jutta W. Thomasius die ungebremste Bewunderung, "soll ich mit dem Zug fahren? Mit dem ganzen Gepäck?"

Der Außenwelt tut sie gerne den Gefallen, mit ihrem Alter zu kokettieren, 90 Jahre!, auf dass man staune über ihre Vitalität. Seit zehn Jahren aber quält sie die Bandscheibe und hämmert ihr ins Bewusstsein, dass auch ihrem Elan, ihrem Ehrgeiz natürliche Grenzen gesetzt sind. Sie denkt diese Grenzen immer häufiger bis zum Tod. Sie hat einen Wunsch, sie äußert ihn wie ein Versprechen an sich selbst: "Ich will mit Anstand sterben."

Jutta W. Thomasius, Kürzel und Markenzeichen jwt, Reporterin für Gesellschaft, Zoo und Flughafen, gute Seele der Leberecht-Stiftung, Grande Dame der Frankfurter Neuen Presse, will es bis ans Ende so preußisch halten, wie sie, einzige Tochter, erzogen worden ist. Und damit schließt sich der Kreis dieses Lebens, das 1923 in Bad Hersfeld begann, zu einer Kindheit im Luxus, wie sie sagt, in einem Haus mit vielen Zimmern und einem Garten so weit wie ein Feld, hinter dem ihr die Welt offen schien.

Boxer und durchboxen

Ein reiches Leben wird ihr ja bescheinigt, wann immer man sie würdigt. Von der Legende ist dann die Rede. Sie selbst macht keine großen Worte um sich, schon gar nicht um ihr Werk. Wie in ihren Berichten richtet sie den Glanz auf die Menschen, denen sie begegnet ist, den universell Gebildeten wie dem Zoo-Direktor Bernhard Grzimek, die Vielseitigen verehrt sie überhaupt, Spezialistentum langweilt sie. Die deutschen Hollywood-Schauspieler Gert Fröbe und Peter van Eyck hat sie wie auch viele Lokalprominente in ihrer ersten Frankfurter Wohnung bewirtet, klein war sie, unterm Dach. Ihre Begegnung mit Cassius Clay gehört zur Stadtgeschichte, wie sie erst Mutter Clay zur Modenschau mitschleppte, und Mutter Clay dann sie zum Box-Training, wo die Thomasius den Champion unter der Dusche erblickte. "Ein schöneres Mannsbild habe ich nie gesehen." Sie war es auch, die Jürgen Schneiders Betrügereien aufdeckte, was ihr Vergnügen bereitete, weil sie den Baulöwen wie alle hochmütigen Gecken nicht leiden mochte.

Nicht, dass sie diese Anekdoten nicht gern erzählte. Mit Nachdruck aber betont sie andere Leistungen: Dass sie es war, die die Kollegen mit auf die Freßgass geschleppt hat, um für die Leberecht-Stiftung zu sammeln, wie sie überhaupt als eine Art rasendes Mädchen für alles überall dort die Fahne der Zeitung hochgehalten hat, wo die Leser waren. "Ob ich viel lieber auch mal etwas anderes gemacht hätte, hat nicht interessiert."

Sie sagt einen Satz, der viel über sie sagt, einen wie von Kindermund gesprochenen: "Wenn ich etwas verbockt habe, sehe ich es ein, bestraft zu werden." Wer einen hohen Gerechtigkeitssinn hat, der ist verletzbar, der lotet unentwegt den schmalen Grat aus, gerade, wenn er sich unermüdlich heiß bemüht. So ist das reiche Leben, von dem sie in ruhigen Stunden erzählt, nicht zwingend ein erfülltes, sondern eines von Kränkungen und Verzicht auch, von eiserner Disziplin und Pflichterfüllung, von Härte gegen sich selbst. Nicht auch gegen andere? "Ich habe nichts getan, weswegen ich ein schlechtes Gewissen haben müsste", sagt sie. Einerseits. Andererseits sind da diese Einsichten, die wie Geistesblitze in sie kommen, oft und überall. "Ich bereue zu vieles", sagt sie. Die Hand winkt abwehrend, sie wird den Teufel tun, Beispiele zu geben, dann aber ruft sie aus: "Doch! Eines bedaure ich sehr: Dass ich aus meinen Talenten nicht genügend gemacht habe."

Da ist ihre Leidenschaft für die Haute Couture. Sie hat den Frankfurter Modekreis gegründet, sie hat Modeschauen organisiert im Namen der FNP, sie hat eigene Kreationen entworfen. Aber sie hat diese Leidenschaft nicht hartnäckig verfolgt, nicht strategisch. Die Oper, noch so eine Unvollendete, war schon in jungen Jahren nur ein Traum, dabei sang sie gut, 250 Arien und Lieder kann die Thomasius auswendig. Studiert hat sie Germanistik, Musik und Kunstgeschichte, ein Büchermensch ist sie, ein analytischer Kopf. All diese Neigungen kamen zu kurz im Berufsalltag, blieben verbannt ins Private.

Sie habe eben nie Zeit gehabt, sagt sie. Rund um die Uhr war sie auf Achse, ein Termin jagte den nächsten, zur Fastnacht besuchte sie 33 Vereine am Wochenende. "Kein Zuckerschlecken", dieser Reporterjob für Zeilengeld, "aber ich musste ja was verdienen."

Lohn und Preis

Das ist der offensichtliche Teil der Wahrheit, der andere könnte sein, dass ihr der Mut gefehlt hat auszubrechen aus dem Trott, aus der Rolle auch. Sie genießt den Ruf, durchsetzungsfähig zu sein, einen starken Willen zu haben, ihr Auftreten mag das unterstreichen. Sie gilt als treu, als zuverlässig ohnehin, mehr als 60 Jahre bei der FNP, aber bei allem, was sie der Zeitung, was sie ihren Lokalchefs und Chefredakteuren zu verdanken hat, beschleicht sie eben zuweilen auch das Gefühl, ihr Einsatz sei nicht angemessen gewürdigt worden. "Ich hätte öfter Nein sagen sollen." Als Kind packte sie ihr Köfferchen, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte, steckte immer auch ein Taschentuch ein, "zum Weinen". Einmal schlachteten ihre Eltern ein Lämmchen, das sie ihr ein halbes Jahr zuvor geschenkt hatten. Der Schmerz war tief. Gegangen ist sie nicht.

Im Konferenzraum der FNP sitzt sie an diesem Vormittag und erinnert sich drei Stunden lang bis in Einzelheiten, druckreif ist jeder Satz, und so unermüdlich ist sie, dass sie der Bitte nach einer Kaffeepause einen erstaunten Blick auf die Uhr folgen lässt. An der Wand hängen Porträtfotografien der sieben früheren Chefredakteure. Vorhin hat sie geschwärmt, wie gebildet, wie kultiviert die Herren waren (bis auf einen: "Der war ein Arschloch!"), hat auch davon geschwärmt, mit welcher Hingabe einst Zeitung gemacht wurde, weil nicht jeder Cent umgedreht werden musste.

Sie ist in diesen Blütezeiten selbst zu einem Teil der Lokalprominenz geworden, mit Preisen ist sie überhäuft worden, das Bundesverdienstkreuz ist ihr verliehen worden. Wo immer sie auftauchte, raunten die Bürgersleut: "Die Thomasius ist auch da", raunten voller Hochachtung, auch ehrfürchtig, die Grenzen sind ja fließend bei Persönlichkeiten wie ihr. Sie kokettiert geschmeichelt und charmant, wenn man ihre Bedeutung erwähnt, als hätte ausgerechnet sie, die so scharf blicken und sprechen kann wie ihr Geist denkt, die Ehrerbietungen gar nicht wahrgenommen, wenn zum Beispiel Pressekonferenzen bis zu jenem Augenblick verschoben wurden, da sie sozusagen die Bühne betrat - mit auffallender Beiläufigkeit, elegant gekleidet, stets Hut oder Baskenmütze auf dem Kopf, nicht selten mit Hund an der Leine. 13 treue Hunde haben sie durchs halbe Leben begleitet, den aktuellen, klein und schwarz ist er, ruft sie Tino. Als sie ihn bekam, war er acht Jahre alt, hieß Toni, was sie als unpassend erachtete, weswegen sie ihn, der eine qualvolle Jugend hatte, kurzerhand umbenannte. Seither wird er, wie alle seine Vorgänger, reichlich verwöhnt und schnappt nach jeder fremden Hand, die sich ihm nähert.

So ist sie als Dame mit dem Hündchen stets auch das erfüllte Klischee von der Dame ohne Mann. Liebevoll, wie es der Lokaljournalismus gebietet, ist sie zu all ihren Ehrentagen porträtiert worden. Dass ihr Humor so trocken ist wie ihr Charme rau, sie so kratzbürstig sein kann wie herzlich, gehört zu ihrem Wesenskern, es zu verschweigen wäre albern. Dass sie aber den Männern zu dominant, zu launenhaft, einfach zu schwierig war, wer weiß? "Ein leidenschaftlicher Journalist muss Single sein", sagte sie einst der "F.A.Z.", aber auch: "Ich hätte gerne sechs Kinder gehabt ohne Mann." Heute sagt sie es schonungslos: "Mir fehlten die Schönheit und die gute Figur."

Es gab eine große Liebe in ihrem Leben, während des Zweiten Weltkriegs war das. Ein guter Mann sei er gewesen. Er heiratete die Witwe eines Freundes, der im Krieg gefallen war, "er empfand es als seine Pflicht, sich um sie und ihre Kinder zu kümmern", sagt sie. Es klingt, als rechne sie ihm das hoch an. Es gab auch einen Ehemann, Ende der 40er Jahre. Er meinte es nicht ehrlich mit ihr, wollte sie, die mehrere Sprachen spricht, benutzen für krumme Geschäfte. Ein Hochstapler. Sie verließ ihn nach zwei Jahren. Zu jener Zeit musste sie auch für die Mutter sorgen. Der Vater war bald nach dem Krieg gestorben, am Bodensee, wohin es die Familie verschlagen hatte, war der Mutter nicht viel geblieben.

Vor dem Krieg war der Vater Südwest-Direktor der Nähmaschinenfirma Singer gewesen, Stuttgart und Ulm hießen die Stationen nach der Kindheit in Bad Hersfeld, Wohlstand schien der jungen Jutta ein Naturgesetz. Als der Krieg sich anbahnte, trat der Vater, Oberstleutnant a.D., in die Wehrmacht ein. Die Mutter hatte jüdische Wurzeln, als ranghoher Soldat hoffte er, sie besser schützen zu können. Nach dem Einmarsch in Frankreich ging er, der gebürtige Elsässer, zum Wehrbezirkskommando nach Straßburg. Major war er nun, sie lebten feudal. Dann fiel die Westfront, sie mussten fliehen, zogen ihren Kübelwagen mit dem Nötigsten durch den Rhein, landeten auf Umwegen am Bodensee und standen vor dem Nichts. Eine Familie, kleine Leute, half ihnen. Seither ist ihr die Solidarität mit denen, die am Boden liegen, mehr als ein politisches Anliegen. Und der Bodensee ihre Heimat.

Bars und Gefängnis

Von dort tingelte sie als Jazzsängerin durch Bars, arbeitete sie als Fremdsprachenkorrespondentin, als Dolmetscherin für die französischen Besatzer, saß wegen eines Missverständnisses sogar ein halbes Jahr lang im französischen Militärgefängnis. Eine Freundin animierte sie schließlich, nach Frankfurt zu kommen, als Journalistin. Sie begann, für ein Frauenjournal zu schreiben, kam zur Abendpost Nachtausgabe. Und dann, 1953, zur Frankfurter Neuen Presse.

Da ist sie bis heute, wenn möglich, eben diese zwei Wochen im Monat. Sie wohnt dann bei einer Freundin, "einer jungen", sagt sie, Anfang 70 erst, "die meines Alters sind ja fast alle tot". Bald jeden Tag kommt sie in die Redaktion, schreibt ihre Berichte aus dem Kaisersaal, aus Galerien, über alte Weggefährten, atmet sie die Luft der Redaktion, ihrer Zeitung, die ihr zur Familie geworden ist, eine mit nicht nur Sonnenseiten. Das will sie abermals betont haben.

Dass sie vor zehn Jahren zurück nach Wasserburg an den Bodensee gezogen ist, dafür nennt sie vor allem einen Grund: die teuren Mieten in Frankfurt. 30 Jahre hatte sie am Dornbusch gelebt, standesbewusst auf 110 Quadratmetern. Aber sie hat in den vielen Jahren als freie Mitarbeiterin nie vorgesorgt, ein festes Honorar, endlich als Anerkennung, wie sie sagt, erhielt sie erst spät, ihre Rente ist entsprechend schmal. Sie fühlt sich ja auch wohl am Bodensee, die Wohnung, sie gehört ihr, mag sie sehr, 45 Quadratmeter, Uferlage. Und doch werden ihr die zwei Wochen jedes Mal lang, vermisst sie die Freunde, den intellektuellen Austausch. "Ach, es ist schon gut so", sagt sie.

Und wenn sie irgendwann wirklich nicht mehr fahren kann, was dann? Sie atmet schwer durch. Der Gedanke mache sie traurig, sagt sie.

Einmal in den drei Stunden des Gesprächs hat sie über das Vergessen sinniert und wie glücklich sie darüber ist, dass ihr Gedächtnis sie nicht im Stich lässt, wie schade sie es findet, nicht mehr so gut schreiben zu können wie früher, darüber auch, wie kurzlebig das Erinnern in der Zeitungswelt geworden ist. So gesehen schreibt sie mit jedem Bericht auch dagegen an, vergessen zu werden. Vielleicht so lange sie lebt. Denn wenn es an der Zeit sein soll, will sie es so haben wie ihr Vater. Bei einem schönen Fest fiel er um. "Das wäre wunderbar."




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