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Fürsorge ist keine Inklusion - Beim 40-jährigen Bestehen der IB-Behindertenhilfe wird deutlich, woran es in der Gesellschaft noch fehlt

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Als der Internationale Bund 1973 in der Bommersheimer Straße sein Quartier bezog, waren viele Anlieger noch in Sorge, durch die neue Nachbarschaft könnten ihre Häuser an Wert verlieren. "Heute, 40 Jahre später, ist das anders", freut sich Geschäftsführer Michael Thiele. Bei der Feier zum 40-jährigen Bestehen der Behindertenhilfe des Internationalen Bundes (IB) am Sonntag sagte Thiele in einer Podiumsdiskussion, die offenbar gelungene Integration Behinderter in ein gewachsenes Wohnquartier sei zwar ein großer Erfolg, aber kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Thema der von Andreas Winkel (Hessischer Rundfunk) geleiteten Diskussion war "Ein Leben mittendrin". Das Gespräch wollte "Visionen für eine inklusive Gesellschaft" formulieren.

Die gibt es sicher auch in Oberursel, einer Stadt, in der es sehr viele Behinderteneinrichtungen und auch behindertengerechte Einrichtungen, aber auch noch Nachholbedarf gibt, wie Bürgermeister Hans-Georg Brum (SPD) auf dem Podium einräumte. Der Hessentag habe mit seinen baulichen Verbesserungen stark dazu beigetragen, die Inklusion in der Stadt voranzubringen. Man habe diese bei der Planung neuer Projekte im Blick, schwierig sei es aber, bestehende Quartiere wie die Altstadt behindertengerecht zu gestalten.

Es gelte Gelegenheiten zu schaffen, bei denen sich Behinderte und Nichtbehinderte treffen und austauschen können. Der Zimmersmühlenlauf sei eine solche Gelegenheit. Wichtig sei es auch, Behinderten Arbeit zu geben und sie in die Gesellschaft zu integrieren. Die Stadtverwaltung lebe dies vor, sie beschäftige Behinderte. "Die Kollegen kümmern sich rührend um sie", sagte Brum.

Erziehungswissenschaftler Professor Dr. Kurt Jacobs nannte dieses "rührende Kümmern" ein "soziales Feigenblatt". Diese Fürsorge werde mit Inklusion verwechselt. Solange es in Deutschland 37 000 Firmen gebe, die, weil sie Behinderte als "ökonomische Defizitwesen" ansehen, lieber Ausgleichszahlungen leisteten statt Fördermittel für die Beschäftigung Behinderter in Anspruch zu nehmen, sei es noch ein weiter Weg.

 

Nach den Nachbarn sehen

 

IB-Chef Thiele sagte, Barrieren in Gebäuden seien das eine. Wichtiger seien die im Kopf und im Herzen, die abzubauen sei schwieiriger, als Rampen, Behinderten-WC oder Aufzüge einzubauen. Die Gesellschaft müsse wieder lernen, nach dem Nachbarn zu schauen. Das Bewusstsein, dass auch behinderte Menschen wichtige Beiträge zum Miteinander leisten können, sei vielen nicht bewusst.

Der Oberurseler Unternehmer Marcus Wohlleben weiß, wovon er spricht. Selbst schwerstbehindert, beschäftigt er in seiner IT-Firma einen Behinderten. Dass der jeden Tag von Heidelberg anreisen muss, weil trotz aller Bemühungen in Oberursel keine passende Wohnung gefunden werden konnte, weist auf ein weiteres Problem hin.

Es gebe zu wenige behindertengerechte Wohnungen, sagte auch Thiele und lieferte die Erklärung: Dadurch, dass im NS-Regime die meisten Behinderten umgebracht wurden, gibt es kaum behindertengerechte Altbauten. Erst in den 70er Jahren seien die ersten Wohnungen für mobilitätseingeschränkte Menschen entstanden. Der IB sei 1973 in Oberursel bei den ersten gewesen. Architekten, so Thiele, müssten heute noch sehr viel stärker auf Behinderte zugehen und deren Bedürfnisse in den modernen Städtebau integrieren.




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