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Auf Systemwechsel folgt Protest - Personalräte von Schulen warnen vor Zerschlagung des "Gemeinsamen Unterrichts"

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Elisabeth Heidkamp-Schlottner, Förderschullehrerin an der Ginnheimer Diesterwegschule und Vorsitzende des dortigen Personalrats, ist verärgert. Der Grund: Sie und einige andere Förderschullehrerinnen werden zwangsversetzt. Rainer Kilian, stellvertretender Direktor des Staatlichen Schulamts, spricht von stadtweit bis zu 15 Betroffenen. Und er spricht vorsichtig von einem "Paradigmenwechsel". Denn die Integration von Kindern mit Behinderung in den Regelunterricht allgemeiner Schulen wird einem gravierenden Systemwechsel unterzogen, was mehreren Lehrerkollegen sauer aufstößt. "Die Qualität der Unterrichtsbetreuung nimmt ab", sagt etwa Anita Weber, stellvertretende Schulleiterin der Preungesheimer Theobald-Ziegler-Schule. Sie wiederholt damit, was auch andere Betroffene gegenüber dieser Zeitung äußerten. Von der seit 20 Jahren praktizierten Regelung hätten nicht nur Kinder mit Förderbedarf sehr profitiert, sondern alle, so Weber. "Und wir wollen eine Schule für alle sein", fügt sie an.

 

Neue Verordnung

 

Seit 2009 führt die Bundesrepublik Deutschland eine UN-Konvention aus, welche die Rechte von Menschen mit Behinderungen regelt, um ihnen gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Unter anderem wird Bildung dort als Menschenrecht festgelegt, was zur Folge hat, dass Kindern mit Behinderungen der Zugang zu allgemeinen Schulen, Integration in den Regelunterricht sowie angemessene Lernhilfe zu gewährleisten ist. Bislang wurde dies im "Gemeinsamen Unterricht" (GU) realisiert, indem man der Regelschullehrkraft eine Förderschullehrkraft zur Seite stellte. Zusammen gestalteten sie den Unterricht in jeder Schulwoche für vier Stunden pro Kind mit sonderpädagogischem Betreuungsbedarf. Ein Grundschuljahrgang konnte so bis zu vier Kinder mit Behinderung aufnehmen, woraus sich maximal 16 Stunden GU pro Woche ergaben. Im Sommer 2012 trat jedoch ein Beschluss des Hessischen Landtags in Kraft. Elisabeth Heidkamp-Schlottner sieht in dieser Verordnung eine "Sparversion der UN-Konvention". Denn anstelle des "Gemeinsamen Unterrichts" tritt nun der "Inklusive Unterricht", in dessen Rahmen sich der Förderbedarf nicht mehr an der Zahl der zu betreuenden Kinder orientiert, sondern noch höchstens zehn Stunden für Betreuung und Förderung ansetzt. Zudem werden die Förderschullehrerinnen von ihren Stammschulen an Förderschulen versetzt. Diese werden nämlich zu regionalen Beratungs- und Förderzentren ausgebaut, welche die Lehrkräfte dann nach Bedarf an die Regelschulen verteilen - und zwar stundenweise.

In Protestbriefen warnen nun die Personalräte der Diesterwegschule und der Theobald-Ziegler-Schule das Schulamt vor der Zerschlagung des jahrelang erprobten GU-Konzepts. Es werde keine Rücksicht auf bereits eingeschulte Kinder mit Förderbedarf und gut funktionierende Abläufe innerhalb der Lehrerkollegien genommen, heißt es unter anderem darin. Sie fordern unisono eine Rücknahme der Versetzungen und ein ausreichendes Stundenkontingent zur Betreuung der Kinder mit Förderbedarf.

 

Andere Stammschulen

 

Rainer Kilian versucht zu beschwichtigen: "Wir nehmen niemandem etwas weg!" Der GU laufe noch drei Jahre weiter, die Systemumstellung werde stufenweise umgesetzt und sorge insgesamt dafür, vorhandene Ressourcen variabler einsetzen zu können. Am bisherigen Unterrichtseinsatz der Lehrkräfte in bestehenden GU-Klassen ändere sich vorerst nichts, nur ihre Stammschulen wären bald eben andere, so Kilian.

Da trotz der nahenden Sommerferien noch unklar ist, wer wohin versetzt wird, macht sich Petra Sturm-Hübner mittlerweile Sorgen um die Planung des kommenden Schuljahrs. "Die Kolleginnen hängen in der Luft", beschreibt die Leiterin der Diesterwegschule die "schwierige Situation". Außerdem wisse sie noch nicht, wie der reale Förderbedarf an ihrer Schule nach der neuen Verordnung abgedeckt werden soll. Es sei nun erstmalig geschehen, dass die Einschulung eines Kindes mit Förderbedarf abgelehnt werden musste.

Für Kilian sind solche Ablehnungen hingegen "nichts Neues": Gäbe es zu wenig Lehrerressourcen, würden betroffene Kinder auf Förderschulen geschickt, erklärt er, denn die Ressourcen würden nicht an steigende Schülerzahlen angepasst. Dennoch, so Kilian, seien im Sommer 25 neue Stellen für Förderschullehrerinnen geplant.

Für die meisten Kinder sei das neue System jedenfalls gut, meint Kilian. Sie könnten in Zukunft wohnortnahe Regelschulen besuchen, anstatt weite Wege fahren zu müssen. Letztlich habe die Landesregierung so entschieden. "Das kann man nicht ignorieren."




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